Freitag 18.10. / Samstag 19.10.
Mir
scheint der Großteil der internationalen Presse vermittelt ein ziemlich
“verzerrtes Bild” von den Geschehnissen hier in Chile, also möchte ich
gerne zur aktuellen Situation Stellung nehmen:
¡Chile despertó, Chile ist erwacht!
Ich
befinde mich in Santiago, der Hauptstadt Chiles, wo wir zum aktuellen Zeitpunkt
einer Ausgangssperre Folge zu leisten haben. Das bedeutet dass von
Samstag 22:00-bis morgen Sonntag 07:00 früh niemand ausser Haus gehen darf und das Militär , das vom Staatschef beauftragt wurde für "Sicherheit" zu sorgen, alles dafür Notwendige unternehmen darf um diese "Sicherheit"zu gewährleisten; in genau diesem Moment nimmt es auf den Strassen Santiagos buchstäblich auch von allen Mitteln Gebrauch . Während ich hier schreibe, begleitet mich das ständige Geräusch von einem der vielen Militärshubschraubern, die ihre Kreise über die Stadt ziehen und aus der Ferne hört man Sirenen.
Gestern abend (Freitag) wurde vom Präsident Sebastian Piñera aufgrund von Unruhen der Ausnahmezustand ausgerufen. Was schon vor mehreren Tagen mit organisierten aber friedlichen Protestaktionen begann, geriet gestern abend aus den Fugen. Grund für die Proteste war die erneute Erhöhung der Ubahn-Ticketpreise, was aber nur der letzteTropfen ist, der das Fass zum
Überlaufen brachte. Um ihrem Unmut Ausdruck zu verleihen,
organisierten sich (hauptsächlich) Schüler und Studenten, aber auch Senioren und umgingen die Kontrollverrichtungen, sprich: fast alle ,die an diesem Tag die Ubahn benutzten, bezahlten den vorgegebenen Preis nicht, sondern
übersprangen die Drehkreuze. Dies hatte zur Folge, dass Metro
Santiago die Stationen schloss und die Funktion mehrerer Linien einstellte, sehr viele Menschen blieben in den Stationen und/oder auch Wagons eingesperrt, bis die Polizei auftauchte um "Recht und Ordnung" zu schaffen: mit Hilfe von Tränengas, Wasserwerfen mit Pfeffer versetztem, eisklaten Wasser, Schlagstöcken und obwohl es nirgends erwähnt wird wurde auch von Schusswaffen Gebrauch genommen. Eine junge Schülerin wurde in der Station"Estacion Central" ins Bein geschossen und sie war bei weitem nicht die einzige Verletzte, aber die öffentlichen Medien bringen diese Nachrichten nicht. In Folge wurde die Funktion aller Linien eingestellt, was ein Chaos zur Folge hatte und damit die Wut der Bevölkerung noch mehr schürte... Ja, diese enorme Wut die Chile endlich erwachen lässt.
Neben der ständigen Erhöhung der Ticketpreise des Verkehrssystemes werden zudem nämlich auch konstant Mautgebühren, Benzin, Wasser, Gas und der Strompreis erhöht. Letzteres vor ca einem Monat um ganze 30 % ! Chile gilt als eines der Länder mit der grössten sozialen Ungleichheit in ganz Südamerika. Die sozial schwächste Bevölkerungsschicht muss mit einem Mindesteinkommen von rund 400.000 Pesos Chilenos auskommen, (der Ticketpreis der U-bahn wurde auf 830 Pesos pro Fahrt erhöht, sprich fast 10% des Gehaltes eines normalem Arbeiters werden allein für den Transport zur Arbeitsstelle ausgegeben ). Nur um zu Überleben nimmt der durchschnittliche Chilene mehr als einen Kredit auf, denn weder Bildung noch Gesundheitssystem sind gratis und/oder von grossartiger Qualität und Pensionssystem ist so schlecht, dass ein grosser Teil der Bevölkerung auch mit über 70 noch immer arbeiten geht um nicht zu verhungern. Die Liste der Missstände und deren Gründe ist sehr lang, aber ich möchte mich momentan gerne den Geschehnissen des letzten Tages zuwenden:
¡Santiago arde. Santiago brennt!
Die Wut der Gesellschaft ist sehr gross, vor allem die "neue" Generation hat es satt von der Regierung nicht ernst genommen zu werden. Seit dem Jahre 2011 zum Beispiel gab es zick Versuche und Proteste um die Einfúhrung eines würdigen, qualitativen und leistbaren Bildungssystems zu erwirken. Erfolglos. Hier herrscht das Gesetz: mit Geld kann man alles kaufen. Hat man das auch, kann man sein Kind also in eine tolle, fortschrittliche Privatschule stecken, ganz nach dem grossen Vorbild der
USA. Hat man aber keines bleibt einem nur die öffentliche Schule. All diese Proteste enden generell damit, dass die Polizei zum Einsatz schreitet um dem Geschehen ein Ende zu setzen. Und das tun sie gnadenlos mit Tränengas, Wasserwerfer und Gewalt. Aber das ist ganz normal, das schreckt oder wundert hier keinen mehr. Das gehört zur Realität.
Vielleicht ist es das Gefühl der Ungerechtigkeit und Ungleichheit, dass in diesem Land herrscht und das Gefühl nichts mehr verlieren zu können in Verbindung mit der Überzeugung, dass es so nicht weiter gehen kann, das gestern zu diesen Ausschreitungen geführt hat und die Stadt in ein Schlachtfeld verwandelt hat. Sehr viele Menschen gingen auf die Strasse um sich Gehör zu
verschaffen und ihren Unmut Kund zu tun, und das tun sie hier indem sie alle im gleichen Rhythmus auf Kochtöpfe schlagen : das nennt man Cacerolazo; unzählige hupende Autos, im gleichen Rhythmus;
Strassenbarrikaden wurden errichtet, meistens mit Feuer. Und über all dem wachsenden Chaos hing eine
riesige Nebelschwade an Tränengas, denn die Polizei verfolgte die "aufmüpfigen Jugendlichen", die sich gegen die Regierung und ihre Verordnungen auflehnt.
Mit Einbruch der Nacht begannen die Berichterstattungen im Radio über anfangs vereinzelte Fälle von Brandstiftungen in Ubahnstationen. Aber je später es wurde, desto schlimmer wurde die Situation. Bald schon waren es unzählige Ubahnstationen die in Brand gesetzt und verwüstet wurden, ebenso ein Gebäude und DAS Bild, das in den Medien kursiert ist das Bild eines völlig ausgebrannten Buses. Die Stunden vergingen und alles geriet immer mehr ausser Kontrolle, allerdings erschien es als ob die Polizei zu diesem Zeitpunkt wundersamer Weise plötzlich nicht mehr so sehr präsent war. Erst um 00:15 Mitternachts nahm Piñera Stellung zu den Geschehnissen und rief den Ausnahmezustand aus. Gleichzeitig beauftragte er das Militär für Sicherheit zu sorgen. Er bedauerte entsetzt die grossen Schäden, die Transantiago, das beste Ubahnsystem Südamerikas, davongetragen hat, bedankte sich bei der Polizei für ihren grossartigen Einsatz um das Wohl der Bürger und erklärte dass die Verantwortlichen für die Verwüstungen straffällig gehandelt hätten und zur Rechenschaft gezogen werden müssten. Aber die Preiserhöhung erwähnte er nicht,ebensowenig dass er diese zurücknehmen würde oder dass er auf die Forderungen der Bevölkerungen eingehen würde. Der Präsident hat 11 Stunden gewartet um zu reagieren und anstatt, wie man es in einer Demokratie erwarten würde, Lösungen für die Problematik zu suchen war seine erste Handlung das Militär hinzuzuziehen. Und das in dem Land, das 17 Jahre lang eine Militärdiktatur erleiden musste.
Toque de queda- Ausgangssperre
Es war ein seltsames Erwachen heute, nach den gestrigen Ereignissen. Chile despertó. Nicht nur in Santiago merkte man das, auch in anderen Städten und Regionen begannen die Proteste, Cacerolazos im ganzen Land. Ganz Chile beginnt sich zu behaupten. Es ist Zeit etwas zu tun, die Menschen wollen nicht mehr unterdrückt werden und dieser Wunsch sich endlich durchzusetzen und seine Rechte einzufordern bewegt jeden Einzelnen. Den ganzen Tag über gab es Proteste, Cacerolazos, unglaublich viele Menschen auf den Strassen. Sie fordern den Rücktritt Piñeras, sie fordern das Ende der Gewalt die Polizei und Militär hier ausüben, sie fordern Gerechtigkeit.
Aber scheinbar fordern sie zu viel, denn anstatt die Bevölkerung endlich anzuhören, hat die Regierung unter Piñera beschlossen zu den vertrauten Mitteln aus Zeiten der Diktatur zu greifen. Es wurde die Ausgangssperre verhängt. Niemand darf ohne Genehmigung auf die Strasse, alle müssen drinnen bleiben während auf den Strassen Militärsfahrzeuge patroullieren und die Soldaten versuchen "Recht und Ordnung" zu schaffen. Man hört Helikopter, Sirenen. Die Spannung in der Luft ist fast explosiv. Für die Generation , die die Diktatur erlebt hat ist es wie eine Reise zurück ins Jahr 1973. Die Angst ist greifbar. Aber da ist auch die Generation, die sich das nicht mehr gefallen lässt, denn sie versuchen hier uns unserer Freiheit zu berauben und so etwas darf sich nicht wiederholen.
Wer weiss wie viele in dieser Nacht Widerstand leisten und wer weiss wie viele diese Nacht heil überstehen.
In den Medien sieht man nur Zahlen der verwundeten Polizisten und die Zahl der Verhafteten. Aber was passiert mit der Zahl der verwundeten Zivilpersonen? Und die Zahl der verschwundenen Schüler? Die Zahl der Toten?
Denn so beängstigend es auch sein mag, wir können die Augen nicht verschliessen, all das ist Realität, all das passiert genau jetzt und in diesem Moment.
In 2 Stunden endet der erste Toque de queda, wer weiss wie viele uns noch bevorstehen in den nächsten Tagen oder Wochen? Wer weiss was der morgige Tag bringt. Mit Sicherheit wissen wir nur: Chile ist erwacht!
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AntwortenLöschenVielen lieben Dank dort für dieser Bericht, man bekommt hier in Deutschland nichts zu hören über Chile und die Studenten, ich war bis 4 Uhr morgens wach, hatte Angst um meine Familie in Chile und die Erinnerungen von damals kamen wieder zurück, unmöglich, ich hätte nie gedacht wieder einen Tank auf den Straßen Santiago sehen zu müssen.
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