Chiles brutale "Normalität"
Nach dem Großprotestmarsch von letztem Freitag ruft Präsident Piñera die chilenische Bevölkerung jetzt zur "Rückkehr zur Normalität" auf. Eine fiktive Normalität, denn die Geschehnisse der letzten 10 Tage im Ausnahmezustand des südamerikanischen Landes lassen sich nicht einfach löschen oder vergessen. Das Militär wurde immer noch nicht von den Straßen abgezogen und die Zahl der Toten, Verletzten, Gefolterten und Vermissten steigt nach wie vor.
Es sind beeindruckende und gleichzeitig berührende Bilder, die auf der ganzen Welt gezeigt werden:
Freitag der 25. Oktober, Chile. Über 1,2 Million Menschen
versammeln sich friedlich protestierend auf der Plaza Italia in
Santiago. Die Schlagzeilen lauten: "Der historische Marsch Chiles, der
die soziale Veränderung des Land bewirken wird." Präsident
Piñera äußerte sich dazu wie folgt: "Der massenhaft besuchte, fröhliche
und friedvolle Marsch, mit dem die Chilenen um ein solitäres und
gerechteres Chile bitten, öffnet große Wege voller Zukunft und Hoffnung.
Wir alle haben die Nachricht gehört. Wir alle
haben uns verändert.“
Fragwürdig ist, ob auch der Inhalt der Nachricht
gehört wurde, denn es existiert kaum Spielraum, diesen falsch zu
interpretieren: Das chilenische Volk protestiert gegen die Regierung
aufgrund der vielzähligen sozialen Misstände und fordert
in erster Linie den Rücktritt Piñeras, der auf einen mehrtägigen
Schülerstreik mit dem Ausruf des
Ausnahmezustandes reagierte. Auslöser dafür war die erneute Fahrpreiserhöhung, die Protestaktion dauerte mehrere Tage, am Freitag dem 18.Oktober kam es jedoch zu Ausschreitungen . Am selbigen Tag beorderte Piñera das Militär auf Chiles Straßen,
das nun schon seit mehr als 10 Tagen auf äußerst brutale Art und Weise
gegen das Volk agiert. Es gibt über 20 Tote durch die Hand von Polizei
und Militär, mehr als 1000 Verletzte, über 3000
Verhaftete und unzählige Vermisste (aktuelle Angaben vom INDH -
nationales Institut für Menschenrechte). Man kann aber davon ausgehen,
dass die reelle Zahl viel höher ist, von staatlicher Seite gibt es
jedoch nach wie vor keinen offiziellen Bericht.
Das INDH
hat vor einigen Tagen die Existenz einer Foltereinrichtung in einem
Kommissariat einer U-Bahn-Station mitten im Zentrum von Santiago
bestätigt und es gibt unzählige Anklagen gegen Polizei und Militär wegen
Vergewaltigung und sexueller Folter. Die Proteste
im ganzen Land, die vorwiegend friedlich ablaufen (mit sogenannten Cacerolazos:
das Töpfe-Schlagen als Protestaktion), werden brutalst mit Tränengas
und Wasserwerfern beendet, ohne jegliche Rücksicht auf die Anwesenheit
von Kindern, Schwangeren oder
Senioren zu nehmen und in der Zeit der nächtlichen Ausgangssperre
(diese dauerte eine ganze Woche) wurden unzählige Zivilisten unter
diktaturähnlichen Umständen verhaftet, mit Einsatz von Gewalt und
Waffen. All das wird in den offiziellen, traditionellen Medien
nicht gezeigt. Bis auf eine Ausnahme sind in Chile alle Fernsehsender
privatisiert, der einzige staatliche Sender vertritt die Interessen des
Präsidenten. Heute, Montag, soll nach dessen Vorstellungen wieder alles
zur “Normalität zurückkehren” und die Geschehnisse
der letzten 10 Tage wie eine Anektote in der Geschichte Chiles
verankert bleiben.
Aber das Volk weigert sich und die Wut über das “Nicht-ernst-genommen-werden” wird immer größer, denn die wenigen Lösungsvorschläge, die Piñera bisher angeboten hat, erscheinen wie kümmerliche “Trostpflasterl”, gehen den Problemen jedoch nicht auf den Grund. Die Chilenen werden so lange auf die
Straße gehen und immer mehr Wege finden sich lauthals bemerkbar zu machen bis ihren Forderungen nachgegeben wird.
Die Forderungen beinhalten die Erneuerung der Verfassung, die
aktuelle stammt immer noch aus der Feder des ehemaligen Diktators
Augusto Pinochet. Ebenso benötigt es einer grundlegenden Änderung und
Verbesserung des Bildungs- und Gesundheitssystems, das
den Reichen sehr viele Privilegien zu Gute kommen lässt, während sich
der Großteil der Bevölkerung für Ausbildung und bei Krankheit schwer
verschulden muss.
Die "Normalität", von der Piñera spricht, bedeutet für den
durchschnittlichen Chilenen ein Mindesteinkommen von rund 300.000 pesos
chilenos (ca 400 US-Dollar) bei einer 45-Stunden-Woche, mit
Lebenserhaltungskosten wie in Europa und einem privatisierten
Pensionssystem, das so kläglich ist, dass viele mit über 80 noch
arbeiten gehen müssen, um nicht zu verhungern.
PH: Martin Palma
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